Wie die kurdischen Volksverteidigungskräfte in die von den USA gestellte Falle getappt sind.
Entgegen den bisherigen Gepflogenheiten soll an dieser Stelle einmal gestritten werden. Und zwar über eine Angelegenheit, von der unter Linken keine Einigkeit besteht: Wie halten Sie es mit der kurdischen Sache in Syrien? Es debattieren die beiden regelmäßigen jW-Autoren Karin Leukefeld und Nick Brauns, die in dieser Frage kontroverse Positionen einnehmen. Die Thema-Redaktion behält sich vor, solche Debatten zu bestimmten Themen in Zukunft häufiger abzubilden. (jW)
In Syrien gibt es rund ein Dutzend verschiedener kurdischer Organisationen. Einige halten es mit der nordirakischen Kurdischen Demokratischen Partei (KDP), andere mit der »Nationalen Koalition oppositioneller und revolutionärer Kräfte in Syrien« (Etilaf, Sitz in Istanbul). Wieder andere sehen sich eher als Jesiden, kurdische Stämme verfolgen ihre Interessen mal im Bündnis mit diesen, mal mit jenen Machthabern. Kurden organisieren sich auch in anderen Parteien. Besonders in den verschiedenen kommunistischen Parteien sind Kurden stark vertreten, ethnische oder religiöse Orientierung spielt dort keine Rolle.
Die stärkste politische und militärische Organisation unter den syrischen Kurden ist die Partei der Demokratischen Union (PYD) mit den von ihr gegründeten Volksverteidigungskräften für Männer und Frauen (YPG/YPJ). Beide haben ihre Wurzeln in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Die PKK mit ihrem Vorsitzenden Abdullah Öcalan hatte zwischen 1979 und 1998 in Syrien einen sicheren Aufenthaltsort. Das gleiche galt für die irakischen Kurdenparteien KDP und PUK (Patriotische Union Kurdistans). In der Mahsum-Korkmas-Akademie in der libanesischen Bekaa-Ebene unterhielt die PKK – unter dem Schutz Syriens – ein Ausbildungscamp. PKK-Kämpfer wurden von dort durch Syrien und den Nordirak in die Türkei geschleust. Wie für alle Parteien in Syrien galt auch für die PKK eine rote Linie: Politische Propaganda zugunsten einer kurdischen Nationalbewegung in Syrien war ihr untersagt. Unter Hafes Al-Assad war eine politische Organisierung auf der Grundlage religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit verboten.
Angesichts der vielfältigen kurdischen Präsenz in Syrien wäre es falsch zu behaupten, »die Kurden« in Syrien hätten sich in den letzten Jahren zum »Helfershelfer Washingtons« gemacht. Richtig ist allerdings, dass PYD und YPG/YPJ 2014 eine Vereinbarung mit der US-geführten »Anti-IS-Allianz« und (später) mit den »Syrischen Demokratischen Streitkräften« (SDF) getroffen haben.
Offiziell heißt es, man kämpfe gegen den Terror des »Islamischen Staates« und nicht gegen die syrische Regierung. Das wirft die Frage auf, warum dieser Kampf nicht gemeinsam mit der syrischen Armee und ihren Verbündeten (Russland, Iran, Hisbollah) geführt wird. Was macht die US-geführte »Anti-IS-Allianz« für SDK, YPG/YPJ und PYD so viel attraktiver als eine Kooperation mit dem syrischen Regierungsbündnis? Die genannten Einheiten erklären, die von ihnen kontrollierten Gebiete östlich des Euphrats (Rojava), die reich an Rohstoffen wie Öl, Gas und Wasser sind, zudem fruchtbares Ackerland bieten, auf dem unter anderem Baumwolle gepflanzt wird, seien ein Teil Syriens und sollen nicht abgespalten werden. Wäre es dann aber nicht logisch und politisch richtig, mit der legitimen Führung des Landes zu kooperieren, an dessen Erhalt man interessiert zu sein vorgibt? Und zwar unter der Prämisse, eine politische Neuordnung Syriens nach einer endgültigen Niederschlagung der gemeinsamen Feinde mit allen Syrern zu verhandeln? Warum geht die PYD statt dessen eine »Antiterrorallianz« mit nicht einmal benachbarten Ländern ein? Vieles deutet darauf hin, dass die Partei in eine strategische Falle geraten ist.
Wie ist das geschehen? Ein Rückblick. Im März/April 2011 lehnt die PYD den bewaffneten Aufstand gegen die Regierung in Damaskus ab und bildet ein Bündnis mit anderen syrischen oppositionellen Parteien im Nationalen Koordinationskomitee für demokratischen Wandel (NCC). Gesprächsangebote des syrischen Präsidenten Assad an alle kurdischen Organisationen in Syrien werden von der PYD zunächst angenommen, dann aber – vermutlich unter dem Druck anderer kurdischer Gruppierungen, der nordirakischen Autonomieregierung und Beratern aus dem Ausland – abgelehnt.
Ende 2012, Anfang 2013 zieht sich die Syrische Armee unter dem Druck der Türkei und angesichts der Stationierung von NATO-Patriot-Raketenabwehrsystemen aus dem nördlichen Grenzgebiet zurück, hält aber noch den strategisch wichtigen Ort Kamischli. Der PYD liefert sie Waffen für deren Kampf gegen die Türkei und die »Freie Syrische Armee« (FSA), die von der Muslimbruderschaft dominiert wird. Bei den militärischen Eskalationen zu jener Zeit dürfen Feindseligkeiten und Konkurrenz unter den verschiedenen kurdischen Organisationen in Syrien nicht unterschätzt werden.
Im Januar 2014 teilen die PYD bzw. die YPG/YPJ das Gebiet unter ihrer Kontrolle in drei Kantone auf (Dschasira, Kobani, Afrin) und bauen dort Selbstverwaltungsstrukturen auf. Der Konflikt mit der Türkei, mit der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak, mit diversen bewaffneten Gruppen, mit anderen (kurdischen) Organisationen und lokalen Stämmen spitzt sich zu.
Im September 2014 greift der »Islamische Staat« (IS), der u. a. mit der Türkei kooperiert, Ain Al-Arab (Kobani) an. Mehr als 130.000 Menschen fliehen in die Türkei und nach Aleppo, die Volksverteidigungseinheiten der PYD leisten einen verlustreichen Widerstand. Sie fordern schwere Waffen und militärische Unterstützung an. Von den USA ausgebildete Special Forces der nordirakischen kurdischen Peschmerga erreichen im November (aus der Türkei kommend!) Kobani, um den »Anti-IS-Kampf« zu unterstützen. In ihrer Begleitung befinden sich US-Berater und andere Spezialkräfte der »Anti-IS-Allianz«. Spätestens seit diesem Zeitpunkt beginnt die direkte Zusammenarbeit mit dem US-Militär, in die Spezialkräfte anderer NATO-Mitgliedsstaaten eingebunden sind.
Im März 2016 wird die Föderation Nordsyrien (Rojava) gegründet. Es folgt ein De-facto-Bruch mit der Syrischen Nationalen Demokratischen Konferenz (SNDC), die aus dem syrischen oppositionellen NCC hervorgegangen ist und stets für die Sache der syrischen Kurden eingetreten war. Die Ausrufung einer Föderation war nicht diskutiert worden und sprengte den Rahmen der gemeinsamen Vereinbarung.
Seitdem hat sich die Zusammenarbeit von PYD, SDK und YPG/YPJ mit der US-Armee intensiviert. Ob gewollt oder nicht – sie sind die »Boots on the ground«, die Bodentruppen, die im US-Kongress gefordert wurden, um mehr Waffen nach Syrien zu liefern. Und Waffen kommen in großen Mengen. Entweder über die Grenze aus dem kurdischen Nordirak, oder sie gelangen per Flugzeug auf eine der insgesamt neun Militärbasen bzw. Flughäfen, die die USA in den von PYD, YPG/YPJ und SDK kontrollierten Gebieten installiert haben: bei den Ölfeldern von Rumeilan (1), in Hasaka (2), Kamischli (1), Al-Malikija/Derik (2), Tel Abjad, Manbidsch (Lafarge-Zementfabrik), Kobani (Ain Al-Arab) und am Tabka-Damm.
Bestätigt wurde das zuletzt am 5. Juli von einem YPG-Kommandeur (Siban Hamu) gegenüber der in London erscheinenden arabischen Tageszeitung Al-Schark Al-Ausat. Die aktuell wichtigste Basis liegt in der Nähe von Kobani (Ain Al-Arab), wo die Landebahn für schwere Transportflugzeuge von US-Spezialkräften ausgebaut und befestigt wird, wie einem Beitrag in der diesjährigen Aprilausgabe von The Stars and Stripes, einer Zeitung für die US-Streitkräfte, entnommen werden kann. Aktuell sind dort 1.300 Spezialkräfte (u. a. Marines) stationiert, weitere sollen folgen. Nach dem Völkerrecht handelt es sich dabei um die Besetzung eines souveränen Staates.
Angesichts der realen Machtverhältnisse in der Region wird diese Allianz zu weiterem Blutvergießen führen. Nicht nur PKK und PYD wollen Positionen ausbauen und ihren Einfluss stärken, auch die nordirakische Autonomieregierung in Erbil strebt mit einem Referendum eine Ausweitung ihrer Macht an. Jesidische Einheiten und assyrische Christen kämpfen um ihre historischen Siedlungsgebiete, vom Iran unterstützte schiitische Milizen, vom Westen bewaffnete Peschmerga und die irakische Armee verfolgen wiederum ihre eigenen Interessen. Die Türkei beschießt Afrin, das es sich einverleiben will, mit ihr verbündete Turkmenen und arabische Stämme greifen zu den Waffen, um ihre Siedlungsgebiete zu verteidigen bzw. zu erweitern. Alle Akteure sind direkt oder indirekt eine Kooperation mit den US-Streitkräften eingegangen – und kämpfen doch gegeneinander.
Sollten die USA die Bestrebungen der PYD und der PKK für Autonomie und Sozialismus unterstützen, werden sie das nicht tun, weil sie von diesen Ideen überzeugt wären, sondern weil sie ihren eigenen Interessen in der Region von Nutzen sind. Der innenpolitische Konflikt, der 2011 in Syrien begann und von Anfang an von den Nachbarstaaten und deren internationalen Partnern in Europa, am Golf und in den USA befeuert wurde, sollte mit einem »Regime-Change« in Damaskus enden. Die militärische Intervention Russlands, des Iran und der Hisbollah auf Seiten der syrischen Regierung und Armee haben das verhindert. Nun soll der Konflikt durch Teilung »auf Eis gelegt« werden. In diesem Plan spielen PYD, YPG/YPJ und SDF und ihr föderalistisches Projekt – das sich de facto in einer US-Besatzungszone ereignet – eine wichtige Rolle. Ob diese Kräfte das wollen oder nicht: Es geht um die Teilung der Region und um die Schwächung des syrischen Staates. Teile und herrsche.
Lesen Sie auch den kontroversen Beitrag: Gerechter Krieg (Der rein geopolitische Blick verkennt die Dynamik des Volkskrieges in Nordsyrien) von Nick Brauns