Leben im Hintergrund der Schlagzeilen
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Nirgends geduldetKurdische Binnenflüchtlinge verdingen sich als Wanderarbeiter und auf den Müllhalden im Westen der Türkei von Karin Leukefeld Kadifekale, die Samtburg, thront über dem alten Zentrum von Izmir. Heute leben dort vor allem Kurden. Rund eine Millionen kurdische Binnenflüchtlinge gibt es in der westtürkischen Ägäisregion. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, (UNHCR), spricht von drei Millionen (kurdischen) Binnenflüchtlingen in der Türkei. Sie leben in den großen Städten des Ostens wie Diyarbakir, Van, Adana und Mersin sowie in Istanbul und Izmir. Das UNHCR beschränkt sich in der Türkei darauf, die Lage der Internal Displaced Persons (IDP, Binnenflüchtlinge) zu beobachten. Von Ankara aus kümmern sich die Mitarbeiter vor allem um internationale Flüchtlinge aus dem Iran, Irak, den asiatischen Staaten und Afghanistan. Von der türkischen Gesellschaft ausgestoßen zu sein, gehört zum Alltag der Kurden in der Westtürkei. Ohne gesicherte Arbeit, geschweige denn soziale Absicherung, organisieren sie ihr Überleben. Frauen und Mädchen finden Arbeit in der Textilindustrie, wo sie bis zu 14 Stunden am Tag für einen Monatslohn von 80 Millionen TL (ungefähr 100 Mark) arbeiten. Männer und Kinder sammeln Müll, putzen Schuhe, verkaufen gefüllte Muscheln oder Musikkassetten auf den Straßen. Eine Lizenz zum Straßenverkauf ist schwer zu bekommen, meist läßt man sie gewähren. Doch bei unregelmäßigen Razzien vom Ordnungsamt wird vertrieben, wer ohne Lizenz ist, die Waren werden beschlagnahmt. Wer die Strafe nicht zahlen kann, landet im Knast. Flucht nach Westeuropa Seymus D. lebt mit seiner Familie auf der Kadifekale in Izmir. Er mußte 1987 sein Dorf bei Mardin verlassen. Als Dorfvorsteher weigerte er sich, mit den Dorfschützern und dem Militär zu kooperieren. Die Flucht führte die zehnköpfige Familie über Konya nach Izmir. Noch mehr Kurden kamen Anfang der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg im Südosten seinen Höhepunkt erreichte. Mehr schlecht als recht könnten sie heute ihre Existenz sichern, berichtet der alte Mann. Für viele sei die Lage aber so hoffnungslos, daß sie alles gäben, um mit einem der Schiffe in Richtung Europa zu fliehen. Einige tausend Mark koste das pro Person, erzählt Seymus D. Jeder im Viertel wisse, wo »das Reisebüro« sei. »Dann legen alle zusammen, man leiht sich hier und da etwas, um es später, aus Europa, zurückzuzahlen.« Ob auch er selber nach Europa wolle? Nein, niemals. Zwei der Söhne seien bei der PKK in den Bergen, sagt er stolz. Der jüngste Sohn, Erdal, wurde erst vor wenigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen. Da sei er gelandet, weil er mit der HADEP-Jugend eine Demonstration zu Newroz organisiert habe. Erdals Zukunft in der Türkei sehe düster aus. Er müsse nun zum Militär. Das werde er auf keinen Fall machen, sagt Erdal. Am liebsten wolle er zur Guerilla, in die erge. Nach Europa? Nein, lieber nicht. Er habe nichts Gutes von dort gehört. Dennoch überlegt der Vater, ob er den Jüngsten nicht nach Europa schicken solle, »vielleicht hat er dort wenigstens eine Chance?« Selbstorganisation der Entrechteten Das Büro des »Vereins zur Hilfe von Flüchtlingen« (Göc-Der) liegt versteckt in Konak, dem alten Zentrum von Izmir. Küche, Empfangszimmer, Archiv, Besucher- und Arbeitszimmer,alles ist in einem großen, hellen Raum untergebracht. Der Verein wurde 1998 gegründet. Weitere Niederlassungen gibt es in Istanbul, Diyarbakir, Van und Hakkari. Der Zahnarzt Ibrahim Üzelün gehört erst seit kurzem zum Vorstand. Von Anfang habe die Polizei die Arbeit behindert, sagt er. Direkt nach der Gründungsveranstaltung wurde der Verein für 15 Monate geschlossen. Begründung: ein Vertreter der Demokratiepartei des Volkes (HADEP) habe dort gesprochen. Die HADEP, einzige relevante Oppositionspartei in der Türkei, die sich engagiert für die Rechte der Kurden einsetzt, ist vom Verbot bedroht. Im Dezember 2000 begann die Arbeit von vorn. Ziel sei es, den vertriebenen Kurden, den rechtlosen Flüchtlingen und Wanderarbeitern eine Stimme zu geben und zu helfen, erklärt Ibrahim Üzelün. Alle kurdischen Wanderarbeiter seien auch Flüchtlinge aus ihrer wirtschaftlich und sozial schwer zerstörten kurdischen Heimat. Sie kommen aus Urfa, Mardin und Siverek. Mit einer Umfrage sammelt Göc-Der seit Frühjahr 2001 systematisch Informationen über die Lage der Flüchtlinge. Der Fragebogen umfaßt 120 Fragen und wurde von Professor Mehmet Barut und dem Journalisten Ahmet Özel aus Mardin erstellt, die ihn auch auswerten werden. Viele der Flüchtlinge und Wanderarbeiter sind Analphabeten. Im kurdischen Südosten der Türkei finden sie keine Arbeit, Dörfer und Felder sind zerstört, oder sie werden ausgegrenzt, weil sie sich weigerten, mit der türkischen Armee und den Dorfschützern zusammenzuarbeiten. Manche Wanderarbeiter finden einen Platz zum Überwintern an der Westküste. Die anderen verbringen den Winter bei Verwandten im Südosten, um im Frühjahr neu loszuziehen. Einige machen das schon seit 15, 20 Jahren. Der Toros-Ekspres der Türkischen Eisenbahn bringt sie nach Izmir. Ein Transport mit dem Bus oder gar einem LKW ist unbezahlbar. Der Boden an der Westküste ist fruchtbar, bis zu viermal wird im Jahr geerntet, Arbeit gibt es genug. Nach der Aussaat, folgen sie dem Erntekalender: Tomaten, Gurken, Melonen, Weintrauben, Haselnüsse, Oliven, Baumwolle ... Mit ihrem klei nen Treck ziehen die Menschen von Feld zu Feld. Meist arbeiten Familien zusammen, 30, 40 Männer, Frauen und Kinder. Sie wohnen in Strohhütten, notdürftig mit Plastikplanen gegen Regen, Wind und Staub geschützt. Nach getaner Arbeit müssen sie den Platz sofort räumen. Mancher Landbesitzer stellt einen Wassercontainer auf das Feld und verrechnet das mit dem Lohn. Den gibt's zum Schluß. Pro Person verdienen sie 2,5 Millionen TL am Tag, nach dem Preisverfall im März 2001 sind das knapp vier Mark. Eine Gasflasche zum Kochen kostet einen Wochenlohn. Alle sind verschuldet. Sobald sie neun Jahre alt sind, arbeiten auch die Kinder. Zur Schule gehen sie, wenn überhaupt, nur im Winter. Die Kinder sind unterversorgt und oft krank. Malaria, Durchfall- und Hauterkrankungen sind typische Krankheitsbilder infolge mangelhafter Wasserversorgung. Auch seien Kinder von Schlangen gebissen worden, erzählt ein junger Mann, dessen Familienclan gerade auf einem Feld bei Torbali, rund 40 Kilometer südlich von Izmir lebt. Das Leben als Wanderarbeiter sei entwürdigend, sagt eine Frau aufgebracht. Sie spricht kurdisch, wie alle auf dem Platz. Einmal seien sogar ihre Zelte angezündet worden, um sie zu vertreiben. Nirgends seien sie geduldet, immer gäbe es Probleme mit den Behörden und der Polizei. Gerne hätten sie Arbeit in ihrer Heimat, doch sei es dort nicht sicher. Noch immer herrschten Dorfschützer und das Militär, und es gäbe keine Arbeit, um ihre Existenz zu sichern. Zu den menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen gehört auch die Gewalt, der Frauen sowohl innerhalb der Familie als auch von den Großgrundbesitzern ausgesetzt sind. Oft fordern diese von den Frauen und Mädchen sexuelle Dienstleistungen, eine ungeheuerliche Erniedrigung für die Betroffenen und den gesamten Familienclan. Weigern die Frauen sich, besteht die Gefahr, daß alle die Arbeit verlieren. Das Thema ist in der Öffentlichkeit tabu, doch mit den Frauen der Flüchtlingsorganisation Göc-Der können sie zumindest darüber sprechen. Arbeiten auf der Müllhalde Die Stadt Aydin liegt 110 Kilometer südlich von Izmir. Die meisten Touristen biegen kurz vor der Stadt in Richtung Kusadasi ab. Das Touristenparadies an der Ägäisküste ist nur 50 Kilometer entfernt. Die Müllkippe von Aydin liegt hoch über der Stadt, steile Serpentinen führen hinauf. Der Weg führt an einer Großbaustelle vorbei, die neue Universität. Kurz dahinter liegt die Abfallhalde, durch einen Zaun von den umliegenden Olivenhainen getrennt. Hier leben und arbeiten elf Familien mit 60 Personen. Zehn bis 14 Stunden pro Tag schuften sie Sommer wie Winter. Auch ihr täglicher Lohn beträgt 2,5 Millionen TL. Manche sind hier seit zwei Jahren, andere kamen erst vor wenigen Monaten. Sie stammen aus der Umgebung von Mardin und Urfa - aus dem kurdischen Südosten der Türkei. Nur einige verstehen und sprechen Türkisch. Sorgfältig trennen sie den Müll nach Plastikflaschen, Plastiktüten, sonstige Plastikabfälle, Metall, Glas und organischen Abfall. Ein Stapel mit Knochen, einer mit Brot, einer mit Gemüse - nach Prüfung wandert davon einiges in die lagereigene Küche. Gearbeitet wird mit bloßen Händen. Nur die Glassortierer tragen Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind schwarz vom Dreck, die der Frauen mit Tüchern verhüllt. Die Kinder suchen sich Spielzeug im Abfall: eine Puppe ohne Bein, ein kaputter Ball, Glaskugeln. Dazwischen liegen ein Schlauch mit getrocknetem Blut und blutverschmierte Mullbinden - Krankenhausabfall. Sie hätten den Chef der Müllkippe gefragt, ob sie ihre Zelte nicht in den Olivenhainen aufstellen könnten, erzählt ein Arbeiter. Es sei ungesund auf der staubigen Müllkippe zu wohnen, ohne Schatten und frische Luft. Doch ein Umzug wurde verweigert, ohne Begründung. Strom gibt es manchmal für zwei Stunden am Tag. Wasser wird in einem Container geliefert. Niemand weiß, woher es kommt. Damit wird gekocht, gewaschen, geputzt. Der Chef, das haben sie beobachtet, trinkt nicht von dem Wasser. Neben dem Container befindet sich der Waschplatz für 60 Personen, abgetrennt mit vier Vorhängen, die man im Müll gefunden hat. Der Chef des Mülls kommt aus Sivas. Er lebt seit 18 Jahren vom Abfall, hat selber bis vor drei Jahren Müll getrennt. Jetzt, mit den billigen Arbeitskräften aus dem Osten, geht es ihm besser. Für seinen Betrieb zahlt er eine Gebühr an die Verwaltung von Aydin. Den sortierten Müll verkauft er nach Izmir. Dort wird das Plastik gepreßt, verladen und geht dann per Schiff nach China, sagt er. So werde es überall in der Gegend gemacht. Das Müllgeschäft in der touristenreichen Ägäisregion blüht. |
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